pte20060922029 Forschung/Entwicklung, Medizin/Wellness

Genetische Ursache für Autismus entschlüsselt

Signalübertragung im Gehirn durch Abwesenheit von Neuroligin gestört


(Foto: Thomas Dresbach (Univ. Heidelberg)/Nils Brose (MPI für Experimentelle Medizin))
(Foto: Thomas Dresbach (Univ. Heidelberg)/Nils Brose (MPI für Experimentelle Medizin))

Göttingen (pte029/22.09.2006/13:55) Die Göttinger Hirnforscher Nils Brose und Frederique Varoqueaux des Max-Planck-Instituts für experimentelle Medizin http://www.mpiem.gwdg.de haben in Zusammenarbeit mit Weiqi Zhang des Universitätsklinikums Göttingen http://www.ukg-goettingen.de sowie dem US-amerikanischen Genetiker Thomas Südhof die molekularen Einzelheiten von Genmutationen entschlüsselt, die die Signalübertragung im Gehirn stören und Autismus verursachen. Es handelt sich dabei um Gene, die für die Erzeugung von Proteinen aus der Familie der Neuroligine verantwortlich sind und beim Aufbau von Nervenzellkontakten eine wichtige Rolle spielen. Die Forscher konnten jetzt nachweisen, dass im Gehirn genetisch veränderter Mäuse diese Neuroligine fehlen und die Reifung der Synapsen - die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen - gestört ist. Sie erwarten, dass ähnliche Fehlfunktionen auch bei autistischen Patienten vorliegen. Die Studienergebnisse wurden in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Neuron http://www.neuron.org veröffentlicht.

"Um miteinander zu kommunizieren, schüttet die sendende Nervenzelle Botenstoffe aus, die daraufhin die Rezeptoren der Empfängerzelle aktivieren", erläutert Brose das Prinzip der Signalübertragung auf Nachfrage von pressetext. "Die Neuroligine bilden eine Brücke zwischen Sender und Empfänger, über die die Signalmoleküle übertragen werden." Dieser Prozess könnte gestört sein, wenn Nervenzellen keine Neuroligine besitzen, so die Spekulation der Forscher. Anhand von Experimenten an Mausmodellen, die funktionell betrachtet dieselben Mutationen tragen, die bei den autistischen Patienten auftreten, konnten die Forscher nachweisen, dass die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen tatsächlich gestört war. "Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Neuroligine die Reifung der Synapsen regulieren", erklärt Brose. "Sie sorgen dafür, dass genügend Rezeptorproteine an die synaptische Membran der Empfängerzelle gelangen."

Brose erzeugte auch eine Mauslinie, der nicht nur eine der mit Autismus in Verbindung gebrachten Neuroligine fehlte, sondern alle vier bekannten Proteinvarianten gleichzeitig. Es stellte sich heraus, dass die Funktion des Nervensystems ohne Neuroligine vollständig zusammenbricht und die Tiere sofort nach der Geburt sterben. Die Konsequenzen sind also entsprechend tragischer als bei Autisten.

"Wir glauben, dass unsere Forschungsarbeit eine direkte medizinische Relevanz hat", zeigt sich Brose im Gespräch mit pressetext zuversichtlich. Dem Forscher zufolge gab es bisher gar keine vernünftigen Tiermodelle, an denen Autismus untersucht werden konnte. "Doch jetzt haben wir ein Tiermodell in der Hand, mit dem autistische Störungen nachgeahmt werden können." Die Forscher beschränken sich allerdings nicht auf eine genetische Analyse der Störungen. "Der nächste Schritt, mit dem wir bereits weit vorangekommen sind, ist eine Analyse der sozialen Interaktion der Mausmutanten, bei denen Neuroligin-3 oder Neuroligin-4 fehlt", erklärt Brose. Die ersten Ergebnisse seien durchaus Erfolg versprechend: Neuroligin-4-mutante Mäuse haben offensichtlich ein gestörtes Sozial- und Angstverhalten.

"Sollte es gelingen, in unseren Mausmutanten robuste, autismusrelevante Verhaltensänderungen zu messen, dann ist zumindest der Schritt zu experimentellen Diagnose- und Therapieverfahren im Tiermodell möglich", sagt Brose. Dabei könnten die Verhaltensweisen etwa mittels pharmakologischen Therapien manipuliert werden. Nach einem Dutzend von Jahren wäre es dann auch denkbar, experimentelle Verfahren bei Menschen durchzuführen.

Der Autismus gehört zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. Etwa 0,5 Prozent aller Kleinkinder leiden an einem Krankheitsbild aus dem so genannten "autistischen Spektrum". Hauptsymptome dieser Entwicklungsstörung sind eine verzögerte oder völlig ausbleibende Sprachentwicklung, ein gestörtes Sozialverhalten und sich wiederholende Verhaltensmuster. Bei vielen Patienten ist die Krankheit zusätzlich von einer geistigen Behinderung begleitet. Heute ist klar, dass hauptsächlich genetische Faktoren zum Ausbruch der Krankheit führen. Besonders überzeugend wurde das in Studien mit eineiigen Zwillingen nachgewiesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch der andere eineiige Zwilling an Autismus erkrankt, liegt bei etwa 80 bis 95 Prozent.

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